Vernetztheit und Leiblichkeit in der digitalen Welt

Zu Rosmarie Lukassers Ontologie der aktuellen Mensch-Maschine-Interaktion

 

Rosmarie Lukasser erforscht in ihrer Arbeit Strukturen und Wirkungsmechanismen der digitalen Welt. Was sie in den Fokus nimmt, sind jedoch nicht die Systeme von Hard- und Software, von Datenverarbeitung und Virtualität, sondern die Auswirkungen der intensiven digitalen Vernetzung auf das Verhalten, den Körper, die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Menschen. Lukassers Annäherung an das, was es bedeutet, im Netz zu sein, ist eine ontologische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft nach der digitalen Revolution. So normal die Feststellung „bin im Netz“ im Berufs- und Privatleben heute ist, so wenig weiß man darüber, wie die paradoxe Möglichkeit, unseren Körper an einem Ort zu haben, unsere Gedanken jedoch zugleich an viele andere Orte transferieren zu können, unser Daseinsgefühl verändert.

In einer ihrer analytischen Zeichnungen auf Millimeterpapier, die Lukasser auch „Informationsfilter“ nennt, sind drei kalligrafisch skizzierte Figuren mit Laptops zu sehen, die in typisch „digitaler Haltung“[i] vornüber gebeugt in isolierten weißen Zellen sitzen, über die Verbindung ihrer Geräte jedoch miteinander in Kontakt stehen. Darunter steht in sinnspruchartiger Manier: „Auch wer nicht weiß, wie GPS funktioniert, kann damit problemlos seinen Weg finden.“ Lukassers Perspektive ist nicht die einer IKT-Expertin, sondern die Sicht einer informierten Laiin, die aus der Position der sogenannten Userin und als Beobachterin anderer User/innen ein Verständnis für die digitale Welt entwickelt. Es ist die Auseinandersetzung mit den verinnerlichten, normalisierten, teils auch verdrängten Automatismen, gleichsam mit dem Unbewussten der digital vernetzten Welt, die die Arbeit von Lukasser im Sinne einer offenen, sich in unterschiedliche Richtungen verzweigenden Forschung antreibt.

Was ihren Werken im Streben nach einem Verständnis der vernetzten Gesellschaft ein besonderes Erkenntnismoment verleiht, sind die analogen künstlerischen Mittel, die sie einsetzt, um die somatischen Effekte des Digitalen zu ergründen und zu Bewusstsein zu bringen: anthropomorphe Skulpturen mit einer expressiven Leiblichkeit aus Gips und Metallgeflechten, Objekte aus geritzten Spiegeln und Licht, Manuskriptzeichnungen auf mathematischen Papieren und ähnliche Formen, die einen starken Bezug zum Materiellen und Körperlichen, zum physischen Tun und zur physischen Empathie in sich tragen.

Im digitalen Zeitalter, das alle Lebensbereiche von der Arbeit bis zur Freizeit durchdrungen hat, erhält die Frage nach dem Umgang mit der Infrastruktur elektronischer Geräte und Sensoren als ständige Begleiter des Menschen und nach den damit verbundenen Bedingungen des Digitalen zunehmende Bedeutung. Ein zentraler Aspekt, dem sich Lukasser in diesem Komplex widmet, ist die Diskrepanz zwischen der kühlen Technologie der elektronischen Interfaces, den glatten, anonymen, fast bis zur Dematerialisierung verschlankten Oberflächenmaschinen, die den Weg in die Tiefe der digitalen Welt eröffnen, und der existenziellen Körperlichkeit des Menschen, die individuell an Raum und Zeit gebunden ist. Was macht die Möglichkeit, Nachrichten und Informationen, Gedanken und Emotionen scheinbar unabhängig von Raum und Zeit in die gesamte Welt zu verschicken, mit mir als physisches Wesen; als Wesen, das an einem ganz bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit anwesend ist, dessen Aufmerksamkeit, Denken und Bewusstsein aber von einer Realität absorbiert wird, deren raumzeitliche Koordinatensysteme und Maßstäbe so ganz anders funktionieren?

Die scheinbar so simple Meldung „bin im Netz“, mit der Lukasser immer wieder ihre Ausstellungen überschreibt, definiert nicht nur einen Tätigkeitsstatus, sondern auch den Status des Bewusstseins und der Leiblichkeit in einem an sich paradoxen Raumzeitamalgam. Der Medienwissenschaftler Georg Russegger verwendet in einem Text über Lukassers anthropomorphe Studienobjekte dafür den Begriff der „Fernanwesenheit“[ii]. Lukassers lebensgroße Figuren fokussieren den Zustand einer weitgehenden körperlichen Selbstvergessenheit für die Dauer der Fernanwesenheit auf eine unmittelbare, fast greifbare Weise. Das Erkenntnismoment ihrer Figuren ist auch deshalb so frappierend, weil sie die charakteristischen digitalen Haltungen in zahlreichen Alltagsstudien fotografisch und zeichnerisch detailliert erarbeitet hat: Menschen, die sich mit ihren Smartphones beschäftigen, während sie halb selbstvergessen über die Straße gehen oder in der Schlange oder im Stau stehen; Menschen, die in der Ecke hockend oder am Boden liegend auf ihren Laptops arbeiten usw. Während die Aufmerksamkeit dieser Menschen der digitalen Welt gilt, ist ihr Körperbewusstsein auf ein Mindestmaß, auf simple Automatismen und ein Notfallprogramm für Unvorhergesehenes in der physischen Welt reduziert. In ihren offen konstruierten Menschenfiguren aus weißem Alabastergips, Draht, Schnüren und Füllmaterial macht Lukasser deutlich, wie sich die digitalen Geräte, die sie auch „Einrichtwerkzeuge“ nennt (man könnte sie auch als Zuricht- oder Abrichtwerkzeuge bezeichnen), auf den Körper auswirken. Jene Körperteile, die an der Aktivität im Netz beteiligt sind, wie Kopf und Gesicht, insbesondere die Augen und Ohren, die Hände und bestimmte Muskelpartien, die in den eigentümlich verkrümmten Haltungen angespannt werden, sind in den Figuren detailliert ausgearbeitet. Jene Teile des Körpers, die darin nur eine untergeordnete Rolle spielen, sind dagegen nur roh angedeutet. Während das Minenspiel der konzentrierten Augen deutlich zum Ausdruck kommt, verschwinden die Münder in einer verstummten Gipsfläche.

Überhaupt scheinen die Figuren in einer Art Auflösungsprozess begriffen. Mit der Veränderung des Körperbewusstseins, der Verlagerung der Aufmerksamkeit für das körperliche Hier und Jetzt ins Netz scheinen die Figuren an physischer Integrität zu verlieren. Unter den Händen und in den Ohren leuchten Dioden, die wie Computer kaltweißes Licht ausstrahlen. Sie zeigen den Ort der elektronischen Geräte an und verleihen den Figuren eine Lebendigkeit, die wie das digitale Netz von der Anbindung an das Stromnetz abhängt. Tatsächlich ist es gar nicht mehr nötig, die Geräte zu zeigen, wir erkennen rein an der Haltung der Figuren, dass ihre Körper Schnittstellen für Maschinen sind. Die offenen Körper der Figuren lassen die Grenze zwischen Innen und Außen diffus werden. Ihr inneres Netz von Schnüren und Metallgeflechten, die den Skelettaufbau, Adern und Sehnen assoziieren, reflektieren das Netz der digitalen Geräte, sei es das Strom- oder das Datennetz, das zwar (noch) körperaußen ist, dessen Mechanismen wir aber zweifelsohne verinnerlicht haben. Die offenen Körper, die ihre Konstruiertheit zeigen, verweisen darauf, dass diese Verinnerlichung kein natürlicher, sondern ein technischer Prozess ist. Die digitale Welt ist eine Konstruktion, die einen neuen oder zumindest doch einen wesentlich veränderten Menschen geschaffen hat. Lukasser spricht in Bezug darauf von einer „Konstruktion von Mensch“[iii].

Auch wenn das weltweite digitale Netz, das den Planeten wie ein Nervensystem in Form von Computern, Satelliten, Dronen, Robotern, User/innen, Kabelnetzen, Übertragungswellen usw. überzieht und die Rechenleistung und Lernfähigkeit der künstlichen Intelligenz soweit fortgeschritten ist, dass Maschinen mit Bewusstsein in Kürze möglich sind, ist das digitale System in seinen Grundstrukturen eine artifizielle Konstruktion. In teils analytischen, teils protokollarisch-beobachtenden Zeichnungen, diagrammatischen Spiegel-Licht-Arbeiten und Stickarbeiten auf hinterleuchtetem mathematischen Papier widmet sich Lukasser unterschiedlichen Grundkonstanten der digitalen Welt wie der Netzstruktur von Rechnernetzen und Ortungssystemen oder der grundlegenden Logik und Zeichensprache beispielsweise des Lochkartensystems. Ein zentraler Aspekt dieser Arbeiten ist jedoch auch die Frage, wo und wie sich der Mensch in diesen Systemen wiederfindet.

Die Spiegelarbeiten Weltweites Netz (2014), www.eu.00 (2017), Hub (2014) oder Knotenpunkte_Hub 00 (2017) thematisieren einerseits auf schematische Weise bestimmte Elemente des Netzes. Ritzungen in die Spiegeloberfläche lassen Lichtlinien und -knotenpunkte entstehen, die wie in Weltweites Netz und www.eu.00 anhand der Darstellung der Datenströme über Kabelverbindungen ein alternatives Bild der Welt bzw. Europas zeigen oder die wie in Knotenpunkte_Hub 00 die Sterntopologie zusammengeschlossener Computernetzwerke sichtbar machen. Das Licht funktioniert dabei im übertragenen Sinn wie Datenströme und visualisiert den Verlauf und die unterschiedlichen Intensitäten der Netzaktivität. Es verweist auf die weltweite Verbindung des Netzes bei weitgehender Auflösung der Notwendigkeit, Raum in zeitintensiver Form zu überbrücken. In die Betrachtung dieser Visualisierungen eines gleichsam zeitunabhängigen Netzes blenden die Spiegel das Bild der Betrachter/innen ein – ein Bild, das dezidiert nur im Jetzt existiert. Während Lukassers Figuren „Anwesende, die eigentlich abwesend sind“[iv] darstellen, fokussieren ihre Spiegelobjekte die Widersprüchlichkeit zwischen globaler Vernetztheit und der Verortung der individuellen Person an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit.

Die Stick-Licht-Bilder von Lukasser wie netting-Seekabel 00 (2017) und Navstar-GPS 00 (2017), die ebenfalls bestimmte Aspekte globaler Vernetzung thematisieren, strahlen in der flächendeckenden Hinterleuchtung des mathematischen Papiers, das als Grundlage der schematischen Netzstrukturen dient, etwas Metaphysisches aus. netting-Seekabel 00 bezieht sich auf die weltweiten Unterseekabel, die die Kontinente verbinden und sich hier in Form weisser Fäden über ein isometrisches Papier aus der Landvermessung spannen und das Papier dort perforieren, wo Knotenpunkte sind. In Navstar-GPS 00 visualisieren die schwarzen Fäden GPS-Abfragen. Jeder Punkt auf der Erde, jede der rasterförmig angeordneten Perforationen des Planeten ist über drei Fäden mit Satelliten verbunden. Sie geben den Mechanismus des Global Positioning Systems, eigentlich NAVSTAR GPS, wieder, das ursprünglich für militärische Zwecke von den USA entwickelt wurde und bei dem jede Ortungsanfrage 3 Satelliten aktiviert. In Lukassers Skulptur GPS Globus 0.1 (2013) sind es die Öffnungslaschen von Cola-Dosen, die den Globus wie Satelliten umkreisen. Die Spiegel- und Stickarbeiten mit Licht, die aus unterschiedlichen Blickrichtungen die intensive Vernetzung der Erde beleuchten, assoziieren eine Metaphysik des Netzes, die jedoch nicht neutral, sondern politisch geprägt ist.

So setzt sich Lukasser in Zeichnungen wie Manuskript/Informationsfilter(NSA) (2014) auch mit der Frage der Überwachung der Informations- und Kommunikationsnetze auseinander. Hier sind es wiederum vorrangig US-amerikanische Plattformen und Anbieter wie Google, Facebook, Skype, Youtube, Yahoo oder Apple, über deren Systeme Textnachrichten, Bilder, Videos transportiert und automatisch von Überwachungssystemen wie jenen der NSA kopiert und gefiltert werden. Während der binäre Code oder das Lochkartensystem als grundlegende, mathematische Strukturen neutral erscheinen, können die digitale Welt und ihre Auswirkungen auf uns als User/innen, für die das Netz ebenso nützlich wie unvermeidlich ist, nicht unabhängig von gegenwärtigen und künftigen politischen und ökonomischen Machtverhältnissen gedacht werden.

Zwei Arbeiten von Lukasser skizzieren die neue Metaphysik der Vernetzung und ihre Effekte auf das aktuelle Weltbild in ebenso einfacher wie treffender Art und Weise. Während in Einrichtwerkzeug i1.0 oder Ikone (2012) ein leuchtendes, goldenes Smartphone – erkennbar rein an Größe und Form – als neues Kultobjekt an die Stelle spiritueller Bilder tritt, aktualisiert Lukasser in der Zeichnungsserie Manuskript / Informationsfilter (GPS) (2014) das klassische Vitruvianische Bild des „wohlgeformten Menschen“. Das Idealbild des Vitruvianischen Menschen, mit ausgestreckten Armen und aufrecht stehend eine kreisförmige sowie quadratische Körpersphäre definierend, wird in ein neues ikonisches Körperbild transformiert: ausgerichtet auf den Laptop oder das Smartphone, mit verkrümmtem Rücken über dem elektronischen Gerät meditierend. Die Idealvorstellung vom gegenwärtigen Menschen als User/innen-Schnittstelle zur Maschine erscheint hier eher beunruhigend als erhebend und regt zweifellos zum Nachdenken an.

 

Jürgen Tabor

 

 

 

 

 

 

 



[i] Christine Fegerl, Einführung zu Rosmarie Lukassers Ausstellung Annäherungen an »...bin im Netz i1.3«,  1. – 23. Juli 2017, Galerie Eboran, Salzburg

[ii] Georg Russegger, „Ikonen des Zeitgeists, Überlegungen zu »... bin im Netz« von Rosmarie Lukasser“, in: Projektraum. Project Space. 2013-2014, Kunsthaus Graz, Universalmuseum Joanneum, S. 64-71, hier S. 64

[iii] Rosmarie Lukasser, „Rosmarie Lukasser im Gespräch mit Silvia Höller“, in: Rosmarie Lukasser, Annäherungen an »... bin im Netz i1.2«, Ausstellungskatalog, RLB Atelier Lienz, 2014, S. 4 – 10 , hier S. XX

[iv] Rosmarie Lukasser, ebd., S. XX