«Auf einen Werkkomplex, der sich mit Räumen und Erscheinungsformen der Warenwelt auseinandersetzt, stößt man mit den Arbeiten nach Erasmus, Nenne einen Belgier nie einfach nur Belgier und alles in Ordnung.
Wie Natur- und Kulturlandschaften in verschiedenen geographischen und kulturellen Kontexten eine andere Ausformung aufweisen, so sehen auch Konsumlandschaften nicht überall gleich aus. Beim Betreten eines Supermarktes trifft man in unterschiedlichen Ländern auf ein anderes Angebot an Nahrungsmitteln, das sich in jeweils charakteristische Verpackungen hüllt. In Großbritannien stieß die Künstlerin auf Milchbehälter aus Plastik, in denen sie eine strukturelle Ähnlichkeit zur örtlichen Wohnhausarchitektur erkannte. Britischen Reihenhäusern gleich stehen die Milchbehälter als Produkte eines transformatorischen „Recyclingprozesses“, dem die Künstlerin sie unterzogen hat, nun da.
Im Rahmen eines Aufenthaltes in Brügge setzte sich Rosmarie Lukasser mit Ratschlägen auseinander, die in Reiseführern zum korrekten Umgang mit der belgischen Bevölkerung zu finden waren. Nenne einen Belgier nie einfach nur Belgier wurde da etwa empfohlen. Die Künstlerin nahm diesen Hinweis auf und begab sich auf die Suche nach möglichen Beweisführungen. Fündig wurde sie auf Milchpackungen, die Beschriftungen in den belgischen Landessprachen aufweisen. Der profane Tetra Pak, Symbol der Konsumgesellschaft, wird von ihr als kulturell konnotierter Träger von Zeichen identifiziert, der über die politische Situation eines Landes Auskunft gibt.
Immer wieder ähnliche Gestalt annehmend, haben sich in der Warenwelt archetypische Formen herausgebildet, die sich in ihrer Uniformität auch in den gleichgeschalteten architektonischen Formen städtischen Umgebungen wiederfinden. Als subtiler Verweis auf überbordenden Konsum bei grundsätzlicher Gleichartigkeit von Produkten, die sich hinter hübsch gebrandeten Verpackungen verbirgt, lassen sich daher die Verbundverpackungen von alles in Ordnung lesen.»

Beate Lex


Ordnungshüter

Das „Antlitz der Zeit“:
als August Sander im Jahre 1929 seine Portraits unter diesem Titel veröffentlichte, hatte sich in Folge des Ersten Weltkriegs die Gesellschaft in Deutschland so stark verändert, dass es für das Verständnis ihrer gegenwärtigen Struktur notwendig erschien, in einer Art Katalog ihre neuen Erscheinungsformen zu dokumentieren. Nach damaligem Ethos definierte der Beruf den Menschen. Jenseits der persönlichen Geschichte bestand der objektive und im Sinne der Neuen Sachlichkeit relevante Tatbestand in der sozialen Stellung des jeweiligen Individuums. Jeder Tätigkeit entsprach ein  bestimmter Typus. So kleidet auf den Photos von Sander der Habitus des Rollenverhaltens die Personen und wir können aus den physignomischen Besonderheiten ermessen, wie einzelne Vorstellungen mit den Erwartungen des Umfeldes zur Deckung gebracht wurden. Die Bevölkerung Deutschlands wird sozusagen sortiert und in einzelne Laden gesteckt die mit Berufen etikettiert sind. Revolutionär galt in diesem Zusammenhang auch als Beruf.

Der Turm
von Babel
war der Versuch
der Emanzipation einer Gruppe durch eine enorme kollektive Anstrengung:
Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder (Genesis 11/4). Einen Namen machen heisst hierbei soviel wie, sich selbst neu zu definieren.
Namen geben impliziert Hierarchie, wie wir seit Adam im Paradies wissen: Er darf alle Tiere und Pflanzen benennen unnd damit auch gleichzeitig beherrschen. Wer Dingen einen Namen zuweist, setzt sich selbst in die Position sie unterscheiden zu können und das lateinische Wort dafür heisst discriminare.
Einteilen und Benennen sind nicht wertfrei. Discriminare heisst zuerst einmal nur Unterscheiden, aber Unterscheiden verbindet sich sehr schnell mit Bewerten und die Entwicklung des politischen Begriffes Diskriminierung gibt Aufschluss über die sensible Beziehung zwischen Namen und Rang.

Das Kartenhaus
Wie die Sandburg ist das Kartenhaus eine rhetorische Figur des inneren Widerspruches.
Das Material ist dem Anspruch des architektonischen Typus nicht angemessen: Karton und Sand halten nicht, was Haus und Burg versprechen.  

Das Kartenhaus ist für Rosmarie Lukasser generell ein Hinweis auf die Fragilität der Ordnungssysteme. Während sie besonders in ihren Photos die Präsenz unserer Ein- Auf- und Ver-teilung der Welt dokumentiert, wird im Kartenhaus der temporäre Charakter dieser Anstrengung erfahrbar. Trotz der nach den Umständen grösstmöglichen Genauigkeit ist der Versuch, allen Dingen in einer statischen Ordnung ihren endgültigen Ort zuzuweisen, doch vergeblich. Eine umfassende Organisation bleibt wie im biblischen Turmbau doch nur eine vorübergehende Episode.

Konsumprodukte sind Miniaturarchitekturen. In sie geschnittene Öffnungen manipulieren ihren Massstab und lassen aus Verpackungen die Elemente einer Stadt werden. Unsere Realität  erscheint als medial vermittelte Ordnung der Warenwelt. Sowohl die Schachtel als auch die Medienfassade an einem Turm sind Bestandteile eines allgemeinen Zeichensystems.
Der Turm mit den Figuren macht das weiter deutlich. Innerhalb seiner an sich bedeutenden Vertikalität wird eine Anordnung von unterschiedlichen Figuren deutlich, die ähnlich wie die Photos von August Sander, bestimmte Menschentypen zeigen. In Nischen eingeordnet, die wie Schubladen eines Kastens zu funktionieren scheinen, wird hier nicht sosehr eine bestimmmte Ordnung vorgeführt, als der Versuch selbst gezeigt, eine solche zu etablieren. Wirkt das Verfahren nicht ein wenig antiquiert und glleicht einem Wetterhäuschen mit seinen Personifikationen der Qualitäten der Witterungen? Aber wie steht es mit den Medienfiguren, aus denen der Turm aufgebaut zu sein scheint? Auch antiqiert, oder nicht viel eher doch unsere Art der Orientierung nach einem System der repräsentativen Auffälligkeit öffentlicher Personen jenseits unseres alltäglichen Praxis.

Wir sehen Rosmarie Lukasser auf einem Photo als Studentin, und weil dieser definierende Kontext auf einer Einladung für die Eröffnung einer Ausstellung noch einmal reflektiert wird, verstehen wir sie auch als Künstlerin.

Reiner Zettl